Bewegende Zeiten
Eduardo Galeano
Tag des Lichts
Es geschah in Afrika, in Ife, der heiligen Stadt des Yoruba-Reichs, vielleicht an einem Tag wie heute oder wer weiß wann.
Ein alter, schon sehr kranker Man rief seine drei Söhne zusammen und verkündete:
„Alle meine Lieblingssachen sollen dem gehören, der diesen Raum ganz füllen kann.“
Dann setzte er sich draußen hin und wartete, während es Nacht wurde.
Einer der Söhne brachte alles Stroh, das er finden konnte, doch der Raum wurde nur halb voll.
Der zweite Sohn brachte allen Sand, den er zusammentragen konnte, doch der Raum blieb halb leer.
Der dritte Sohn entzündete eine Kerze.
Und der Raum füllte sich ganz.
Warum wählte ich diese Geschichte für den Titel?
Seit über einem Jahr leben wir in einem Zustand, der für einige ein Ausnahmezustand ist, für andere der blanke Horror, für wieder einige ein Rückzug, noch für andere eine Zeit des Wandels.
Doch was alle erleben, ist eine Veränderung in unserem eigenen Erleben. Eine Veränderung, die tiefe Spuren hinterlassen wird.
Im Alltag haben wir uns irgendwie arrangiert. Oder auch nicht. Denn, wie sollen wir uns in ein neu bestehendes System integrieren, wenn wir mit einer Krankheit konfrontiert sind, die uns in letzter Konsequenz per se schon aus dem „alltäglichen Normverstehen“ entfremdet?
Nein, hier geht es nicht um Corona, sondern um MPS, ML, Mannosidose.
Es ist ein Drahtseilakt, alles unter einen Hut zu bekommen und dann kommt vor knapp 1,5 Jahren eine weltweite Diagnose, die alles auf den Kopf stellt.
Nun, da unsere Welt schon auf dem Kopf stand, könnte sie für uns nun wieder gerade rund laufen, oder?
Bestimmt könnte ich in guten Momenten darüber lachen und ich hoffe für uns alle, dass wir darüber wieder lachen werden.
Das, was wir hören, sind andere Geschichten. Geschichten, wo der gut funktionierende Alltag für unsere Kinder ausgehebelt wurde. Kein Kindergarten, keine Schule, Masken, Diskussionen, Arztbesuche. Alles anders. Wie erklären wir unseren Kindern dieses, was im Grunde nicht erklärt werden kann? Auf ein Niveau, dass es einfach ist. Wir hoffen, mit viel Spaß, Überredung und Beständigkeit es in den neuen Alltag zu integrieren.
In der Hoffnung, dass es „verstanden“ wird.
Homeschooling, homekindergarten, homework, homecooking, homestudying.
Nette Wörter, die die meisten Frauen per se zumeist als non-Profit geleistet haben.
Bevor es in die politische Ebene abrutscht, beziehe ich mich wieder auf den oberen Text. Wir haben immer die Wahl, etwas halb voll, oder halb leer zu betrachten und je nachdem wie wir in uns aufgestellt sind, ist es das eine oder das andere.
Pessimisten sehen es leer, Optimisten voll.
Dann gibt es die Zone dazwischen.
Hoffnung.
Hoffnung auf etwas, das uns nichts geschieht, dass wir gut dadurch kommen, dass die Wochen wieder vorüber gehen und alles normal wird. Hoffen darauf, dass es bald vorbei ist und wir zurück zum Alltag gehen können. Hoffen, dass unsere Kinder das schon stemmen, Hoffen, dass wir die Arbeit erhalten. Hoffen.
Hoffen, dass wir lange zusammenleben dürfen, hoffen, dass der Kindergarten, das Kind herzlich aufnimmt und „versteht“, hoffen, dass der/die Schulbegleiter:in auf der Seite des Kindes steht, hoffen, dass die Medikamente passen, hoffen.
Hoffen, auf was?
Und dann, der nächste Schub, die nächste Station, vielleicht statt Buggy ein Rollstuhl. Es verändert wieder ein klein wenig den Alltag. Sind die Türen breit genug, passt das Auto? Es gibt viele Veränderungen.
Damit könnten wir doch langsam umgehen können. Oder? Nein, unser Gehirn ist nicht so konzipiert, dass es Veränderungen mag. Das bedeutet Arbeit. Energieverbrauch, alte Muster und eingefahrene Strukturen mögen keine Änderungen. Das ist unbequem.
Das Gehirn will so wenig Aufwand wie möglich betreiben, damit die Energie im System konstant bleibt.
Das ist spürbar, wenn wir versuchen, alte Gewohnheiten zu verändern, z. B. jeden Morgen 20 min Sport zu machen. Zuerst sind wir begeistert, starten am Morgen, haben uns vielleicht sogar eine neue Jogginghose gekauft und nach ein paar Tagen fällt es immer schwerer sich dafür aufzuraffen, dann braucht das Kind etwas, jemand ruft an, ich brauche dringend einen zweiten Kaffee, und und und. Ihr kennt das bestimmt. Es braucht willentliche Anstrengung, sich für sich selbst durchzusetzen, eben Energie. Das ist der Punkt, an dem wir gerne einknicken, und schwupps hat die alte Gewohnheit gewonnen.
Ich könnte mir genau in diesem Moment erlauben, mir Zeit zu nehmen und jeden Tag beharrlich weitermachen. Der Rest läuft auch weiter. Einfach so, da fragt nichts. Es passiert einfach. Wenn ich das schaffe, dann ändern sich Gewohnheiten. Es ist viel leichter, sich für andere zu verändern, anstatt sich immer wieder selbst zu fragen, was brauche ich jetzt, in diesem Moment. Es geht nicht darum, alles zu verändern, sondern vielmehr die Sichtweise. Mal einen anderen Stand-punkt annehmen, wahrnehmen.
Was ist, wenn wir, wie in der Geschichte, ein Licht anzünden und alles im Licht erstrahlt? Das Licht als Symbol der Annahme und Anerkennung. Alles ist so, wie es jetzt in diesem Moment sein sollte. Wenn ich meine Gewohnheiten anerkenne und sie annehme und dann ein Arrangement mit ihnen treffe, für mich zu sein.
Dieses Licht für mich leuchten zu lassen.
Was würde geschehen, wenn ich in voller Akzeptanz wäre mit dem Leben, dass ich habe? Mit unseren Kindern? Wenn ich mir erlauben würde einen kleinen Augenblick zu denken, zu spüren, zu sehen, dass es so wunderbare, wertvolle Geschenke für uns bereithält?
Solche Momente kennen wir. Immer dann, wenn wir uns anlächeln, wenn etwas Lustiges geschieht. Wenn wir uns gut fühlen, wenn die Tage gut laufen und ein bestimmter „Flow“ entsteht.
Jetzt ist es an der Zeit, diese Momente in uns aufzunehmen, sie an einem inneren Platz zu integrieren, damit wir uns diese Momente, diese Gefühle, in Zeiten vor holen können, wenn wir völlig aus der Bahn geworfen werden.
Ich kann immer mein Leben als halb voll, halb leer betrachten.
Jedoch eine Kerze anzuzünden, dabei kurz den Atem anhalten, dann sanft ausatmen und lächeln.
Klingt kitschig, oder? Du kannst auch spazieren gehen und in die Wolken schauen, ein Zwiegespräch führen. Für jede/n gibt es etwas, was es braucht, um mit sich selbst in den Kontakt zu kommen.
Das Licht ist immer da.
Aufregende Zeiten bedürfen resiliente Momente im Alltag.
Eine Patentregelung gibt es nicht.
Jedes Menschlein ist eben einzigartig. Jede Diagnose und jeder Verlauf sind einzigartig.
Lasst uns darin unterstützen, denn das ist das Beste, was wir tun können, nicht an dem „anders“ festhalten, sondern uns darin öffnen, dass wir alle in einem Boot sitzen und in eine Richtung rudern sollten, sonst drehen wir uns vielleicht im Kreis.
Gemeinschaft schützt und lässt uns in den dunkelsten Momenten ein Licht anzünden, um uns nicht allein zu fühlen.
Gemeinsam können wir vieles bewirken und sind für uns.
Das könnte dann die Zone betreffen, zwischen Optimismus und Pessimismus.
Ja, das ist etwas, dass wir uns allen wünschen. Gemeinschaft.
Ich will mit einem Gedicht von Rose Ausländer enden:
Der Moment
Ich habe nichts als
Die Nacht aus
100x100Nebellichtjahren
Ich habe nichts als
Die Stunde aus
60x60 Sekunden
Ich habe nichts als den Moment.
Der Moment ist meine Schöpfung
Die Brücke von meinem
Staubgeist zum Sterngeist.
Der Moment ist mein Flügel
Zum Flügel des nächsten Moments.
Ich habe nichts als den Flügel
Ich habe nichts als die Schöpfung
Ich habe nichts als den Moment.
