Thomas Hübl – Kollektives Trauma und Heilung
- Ina Marino
- vor 3 Tagen
- 7 Min. Lesezeit

Immer wieder kommt es vor, dass in den Sitzungen Räume aufgehen, die unser kleines Ich vor eine Herausforderung stellen kann.
Herausfordernd, dass es an Erlebten nicht nur sich selbst betrifft, sondern das Kollektiv, die Gemeinschaft, in der wir leben. Wir sind mit allem und allen verbunden, so lautet auch schon eines der schamanischen "Gesetze". Im übertragenen Sinn sind wir mit dem ganzen Universum verbunden und mit den Leben vor uns und den Leben, die nach uns kommen. Zeit ist eine Variable, die nur auf der Erde existiert. Das Universum selbt ist zeitlos.
Wenn nun alles mit allem verbunden ist, heißt das, dass alles, was jemandem widerfährt, alle anderen im Feld ebenso betroffen sind?
Was macht das dann mit uns? In diesem Aspekt liegt eine enorme Verantwortung. Eigenverantwortung. Denn mit dem Satz: "Alles ist mit allem verbunden.", können wir uns nicht mehr abwenden. Wir müssen Stellung dazu beziehen, was vorraussetzt, dass wir Mitgefühl und ein Verständnis dafür erwerben, dass wir alle "in einem Boot sitzen".
Ein kleines Beispiel: Ein Kind wirft achtlos die Bananenschale auf den Boden. Es geht weiter, die Eltern kümmert es nicht, da sie eventuell auch schon keinen Bezug zu dem entstandenen Müll und dessen Konsequenzen haben. Nun gehen sie weiter und ein anderer rutscht auf dieser Bananenschale aus. Liegt es nun an der Person selbst, dass sie es vielleicht eilig hatte und die Schale nicht gesehen hat und nun einen Gips am Bein hat, weil dieser gebrochen ist.
Ist es das Kind, was achtlos die Bananenschale weggeschmissen hat? Oder die Eltern?
Was ich damit versuche verständlich zu machen: Es ist ein ganzes Feld, was die Verantwortlichkeit tragen sollte.
Denkt einmal größer und denkt an die Kriege, in die auch Deutschland investiert. Jede einzelne Person, die hier einzahlt hat die Waffen mitbezahlt, ist dafür verantwortlich, wenn die Menschen gebrochen aus dem Krieg nach Hause kommen.
Was wir, durch jahrhundertelangem kollektiven Trauma nicht mehr schaffen, ist es einen persönlichen Umgang damit zu finden und es zu uns zu nehmen.
Es ist leicht zu sagen, damit habe ich nichts zu tun. Wirklich nicht. Ich kaufe bio ein, ernähre mich gut, meditiere, gehe arbeiten, etc. und alles andere was sich nicht so schön anfühlt, schieben wir weg.
"Die anderen waren es." Doch was wäre, wenn wir uns bewusst werden, dass wir selbst den Ziegel im Dach gelöst habe, der uns Jahre später auf den Kopf fällt?
Du glaubst jetzt vielleicht, dass sei Humbug. Blödsinn.
"Alles ist mit allem verbunden"
Denk darüber nach.
Im nachfolgenden habe ich dir eine Zusammenfassung vom Ansatz Thomas Hübl geschrieben. Vielleicht schenkt es dir ein paar AHA- Momente:
Was ist kollektives Trauma?
Thomas Hübl beschreibt kollektives Trauma als die tiefgreifenden seelischen Verletzungen, die ganze Gesellschaften betreffen – etwa durch Kriege, Genozide, Kolonialismus, Sklaverei oder systematische Unterdrückung. Im Gegensatz zu individuellem Trauma ist kollektives Trauma in sozialen Feldern gespeichert und wird unbewusst über Generationen weitergegeben.
Ein kollektives Trauma wirkt wie ein „unsichtbarer Schleier“ in der Kultur. Es beeinflusst unser Denken, Fühlen, Handeln – und unsere Fähigkeit, in Beziehung zu treten. Häufig erkennen wir diese kollektiven Traumata nicht, weil sie gesellschaftlich tabuisiert oder normalisiert wurden. Es wurde und wird nicht darüber geredet.
Individuum und Kollektiv – wie sie sich beeinflussen
Thomas Hübl betont, dass individuelle und kollektive Traumata miteinander verwoben sind. Jeder Mensch ist Teil eines sozialen Feldes – der Familie, des Volkes und der Nation. Unverarbeitete kollektive Traumata wirken sich auf das Nervensystem des Einzelnen aus, oft ohne dass es bewusst wird. (Siehe die bereits letzten Blogartikel zum Nervensystem.)
Zum Beispiel kann ein Mensch, dessen Großeltern Kriegstraumata erlitten haben, Stress, Angst oder emotionale Abkapselung erleben, ohne den historischen Ursprung zu kennen. So leben alte Wunden weiter – durch Vermeidung, Schweigen oder Überidentifikation. Wir sind es nach wie vor nicht gewohnt, zu "spüren" sondern es rational zu begreifen. Was daraus resultiert ist jedoch nicht "Aufarbeitung" sondern Scham, Schuld und Sühne. Doch dieses im Körper zu "FÜHLEN" ist essentiell, um tiefe kollektive Schmerzen aus unserem System zu filten, zu erkennen und zu integrieren.
Es gibt oftmals in jeder Generation Menschen, die die "Bürde" des kollektiv erlebten Schreckens. Die Kinder der Kindeskinder.
Das kollektive Trauma-Feld
Ein zentraler Begriff bei Hübl ist das "Trauma-Feld". Dieses Feld ist ein energetisches, emotionales und soziales Gebilde, das durch ein kollektives Trauma entstanden ist. Es beeinflusst:
Wahrnehmung: Was wir sehen und was wir ausblenden.
Kommunikation: Was gesagt werden darf – und was nicht.
Systeme: Wie Institutionen Macht ausüben oder Verantwortung vermeiden.
Das Trauma-Feld hat oft „blinde Flecken“ – Bereiche, die aus Angst, Scham oder Schuld vermieden werden. Diese blinden Flecken erzeugen Spaltung: zwischen Gruppen, zwischen Generationen, zwischen Gefühl und Verstand. Angst, Scham und Schuld erlauben uns nicht frei und groß zu entfalten, zu entwickeln, sondern behalten eine starre Haltung bei, die nicht wachsen kann.
In Gruppen ist dies gut zu erkennen. Der Druck ist groß und um das System zu "schützen", wird in vielen Gruppen geschwiegen oder auch ein Sündenbock auserkoren.
Symptome kollektiven Traumas
Kollektives Trauma äußert sich nicht nur in historischen Daten, sondern im gelebten Alltag. Typische Symptome sind:
Emotionale Erstarrung: Ein Gefühl der inneren Leere oder Abtrennung.
Erinnere dich an die Corona-Krise. Der Schock saß so tief, dass immer noch die
Erstarrung zu spüren ist. Die Trennung in Individuen hat viele traumatische
Themen aufgespült, doch aufgearbeitet wurde nichts. Unterstützung? Wenig.
Überwältigung oder Rückzug: Überreaktionen in Konflikten oder der Rückzug aus Beziehung. Traumatisierte Menschen leben in einem System, welches sich nicht
regulieren kann und erst wieder erlernen muss.
Wiederholungszwang: Gesellschaftliche Muster, die sich immer wiederholen (z. B. Nationalismus, Gewalt). Angst und Schuld lässt keine Erneuerung in unserem Nervensystem zu und somit keine Entwicklung. Dann ist es, wie es ist, ohne eine neue Idee der Erweiterung.
Spaltung: Polarisierung zwischen sozialen Gruppen oder Meinungen.
Schuld und Scham: Eine kollektive Lähmung, die durch unbewältigte Vergangenheit ausgelöst wird. Dies ist in vielen Bereichen erkennbar, die durch Krieg ausgelöst wurden.
Z.B. die Vergewaltigung von Generationen von Frauen in den Kriegen, das Schweigen darüber, Genozide, Alkoholismus in Generationen....
Die Rolle von Präsenz und Bewusstheit
Zentral für Hübls Ansatz ist die Praxis der inneren Präsenz – ein Zustand von Achtsamkeit, Empfänglichkeit und Mitgefühl, der es ermöglicht, mit dem Schmerz in Kontakt zu kommen, ohne überwältigt zu werden.
Er betont: Heilung geschieht nicht durch intellektuelles Verstehen, sondern durch das bewusste Fühlen dessen, was im Feld unterdrückt ist.
Präsenz wirkt dabei wie ein „Licht“, das in den Schattenraum des kollektiven Unbewussten scheint. Diese Präsenz kann individuell geübt werden – aber ihre Wirkung vervielfacht sich in Gruppen, in denen ein sicherer Raum geschaffen wird.
Kollektive Integration statt individueller Rückzug
Ein großes Missverständnis besteht laut Hübl darin, dass Trauma nur individuell zu lösen sei. Tatsächlich braucht Trauma – besonders kollektives – soziale Resonanzräume. In diesen Räumen kann das, was in der Isolation traumatisiert wurde, im Kontakt heilen.
Solche Räume brauchen:
Sichere Struktur (Haltung, Leitung, klare Absicht) Vorallem braucht es Mitgefühl und ein Gefühl dafür, dass ich in diesem Moment meine Aufmerksamkeit voll und ganz der anderen Person schenke.
Transparenz und Ehrlichkeit
Empathische Zeugenschaft: Andere sehen und fühlen mit.
Verlangsamung: Raum für das Nervensystem, zu regulieren.
Hier spricht Hübl oft von "healing containers", also Gefäßen, in denen kollektives Fühlen möglich wird, ohne Überflutung.
Trauma-informed Culture
Langfristig strebt Hübl eine Kultur an, die traumasensibel und bewusst mit ihrer Geschichte umgeht. Das bedeutet:
Bildung über Trauma in Schulen, Politik, Wirtschaft
Strukturen, die Integration fördern, nicht Re-Traumatisierung
Führungskräfte, die in Selbstkontakt sind und kollektiv denken
Räume für kollektives Erinnern – auch für Täter- und Opferlinien
Eine traumasensible Kultur erkennt, dass Konflikte oft nicht auf der Sachebene entstehen, sondern aus unverarbeiteten kollektiven Schmerzen. Kollektive Schmerzen äußern sich in unsicheren Räumen, in denen die Menschen gereizt, gestresst, getrieben und müde sind.
Die Bedeutung von Transparenz und Schattenarbeit
Ein wichtiger Schritt in der kollektiven Heilung ist die Bereitschaft, Schatten sichtbar zu machen – also das, was bislang verdrängt, verleugnet oder verleumdet wurde.
Hübl spricht von der Kraft der "radikalen Transparenz": Je mehr Menschen lernen, ihr eigenes Inneres (auch Unangenehmes) zu halten und zu zeigen, desto mehr wird das kollektive Feld durchlässig für Heilung.
Diese Transparenz erfordert Mut, Übung und eine Kultur, die nicht auf Schuldzuweisung, sondern auf kollektives Wachstum ausgerichtet ist.
Ahnenlinien und generationsübergreifende Heilung
Ein weiteres zentrales Thema ist die Arbeit mit der Ahnenlinie. Traumata leben nicht nur als persönliche Geschichten weiter, sondern als nicht integrierte Energiemuster, die durch Generationen hindurch weitergegeben werden.
Heilung beginnt oft dort, wo ein Mensch beginnt, mit seinen Ahnen (Opfer wie Täter) in Kontakt zu treten – ohne zu verurteilen oder sich zu identifizieren. Das Ziel ist Versöhnung, nicht Verleugnung. In der schamanischen Arbeit trittst du in Verbindung mit deinen Ahnen und ehrst sie. Im Dialog mit den Vorgefahrenen kann das ganze Dilemma aufgearbeitet und integriert werden, dass somit die nächsten Generationen freier leben können.
Spirituelle Dimension von kollektiver Heilung
Hübl verknüpft seine traumasensible Arbeit mit einer tiefen spirituellen Perspektive. Er sieht Trauma als eine „Unterbrechung des Lebensflusses“ – und Heilung als Wiederanbindung an das, was größer ist als das Individuum: das Leben, das Feld, das Bewusstsein selbst.
Hier wird Trauma nicht nur als Problem, sondern auch als Einladung zur Reifung verstanden. Die Integration kollektiver Wunden kann zu einem tiefen Gefühl von Einheit führen – zwischen Menschen, Völkern und mit dem Leben selbst.
Fazit: Ein Weg zu kultureller Transformation
Thomas Hübls Arbeit zum kollektiven Trauma bietet ein Modell, das weit über Therapie hinausgeht. Sie zeigt, wie persönliche Heilung mit gesellschaftlichem Wandel verbunden ist – und dass wir nur gemeinsam gesunden können.
Sein Aufruf ist klar: Lasst uns die Verletzungen der Vergangenheit fühlen, anstatt sie zu vermeiden. Lasst uns die Geschichten hören, die nie erzählt wurden. Lasst uns neu miteinander fühlen lernen – als Weg in eine beziehungsfähigere Zukunft.
Hat dir das einen kleinen Einblick in die traumasensible Arbeit geben können? In diesem Fall war es eine Einladung den Blick in die kollektiven Traumaschmerzen zu lenken.
Eine Gemeinschaft ist nur so stark, wie der schwächste Teil, der in ihr lebt. Um wahrhaft Größe zu erlangen, bedarf es ein ganzes Dorf, eine ganze Gemeinschaft, damit sich alte Muster nicht mehr wiederholen und wir in uns ein tieferes Verständnis von uns selbst erlangen.
In meiner Arbeit versuche ich einen Raum entstehen zu lassen, in dem die Ohnmacht, das Nicht-Gehörte und Nicht-Spürbare an die Oberfläche treten darf. Nicht um zu werten, oder in alten Geschichten zu wühlen, sondern das Gefühl im Jetzt anzuerkennen und zu sehen. Denn alles, was wir sehen, verliert seinen Schrecken und das Licht kann den Schatten integrieren.
Damit schenkt jeder Teil der Gemeinschaft, dem anderen Teil die Gelegenheit auch seine Schatten wertfrei zu offenbaren und sich gesehen und angenommen zu fühlen.
Sei es in Sitzungen der ISP®, im Breathwork, in der Schoßraumarbeit oder in Massagen, hier geht es immer um dich als Ganzheit.
Spür dich und schenke deinem innersten Kern die Gelegenheit mit dir zu kommunizieren, ohne das er direkt vom innerern Kritiker verurteilt wird.
Dabei unterstütze ich und schenke dir einen respektvollen Raum der Achtsamkeit und des Gehaltenwerdens.
Ich danke dir, dass du bis zum Schluß geblieben bist.
Deine
Ina Fabijenna
hat
Komentarze